Gegenlicht

Gegenlicht“ ist der Titel einer Ausstellung und des dazugehörigen Begleitbandes, die bzw. den ich mit einer Berufsschulklasse unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge auf Schloss Zinneberg im Rahmen des „Fest der Kulturen“ vorbereitet und durchgeführt habe. Die Texte entstanden 2016 im „Deutsch als Zweitsprache“-Unterricht im Rahmen eines Workshops zum biografisch-kreativen Schreiben.  Die Anregungen zu dieser Schreibwerkstatt entstammen dem Buch „Begegnung in Texten“ von Eva Finke und Barbara Thums-Senft.

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Gegenlichtaufnahme (c)2016 Thomas Hümmler – München · Grafing

In der Schreibwerkstatt geht es darum, dass Lernende ihre Situation reflektieren und sich mit ihren Erlebnissen, Hoffnungen, Wünschen und Ängsten auseinandersetzen. Mit kreativ-biografischem Schreiben kann man sich schreibend mit der neuen Sprache und Kultur auseinandersetzen und dabei die eigene Lebensgeschichte, Empfindungen, Wahrnehmungen und Sichtweisen mitteilen. Es fördert Selbstvertrauen und Offenheit – und stärkt die eigene Identität.

Im Folgenden stelle ich die verschiedenen Textarten aus der Schreibwerkstatt vor.

Elfchen

Ein Elfchen ist ein kurzes Gedicht, bestehend aus elf Wörtern. Diese werden in festgelegter Folge (1, 2, 3, 4, 1) auf fünf Zeilen verteilt. In der Schreibwerkstatt haben die Schüler ein Elfchen über ihr Heimatland geschrieben. Sie haben Wörter, Gefühle und Eindrücke gesammelt und diese anschließend aussagekräftig zusammengestellt. Der didaktische Nebeneffekt: Binnendifferenzierung ist hier mit eingeschlossen, weil jede und jeder nach seinen Fähigkeiten Texte produzieren kann.

Syrien

Angst

Baschar Alassad

Krieg Soldaten Tod

Damaskus — Menschen im Café

schön

Mein Koffer, mein Rucksack

Ein besonderer Reiz ist der Wechsel der Erzählperspektive, hier aus der Sicht eines Koffers beziehungsweise eines Rucksacks. Der Gegenstand erzählt eine Geschichte und kann so Erfahrungen von Flucht, Vertreibung, Migration und Integration auf eine andere Ebene heben. Da der Ich-Erzähler in die Rolle eines Gepäckstücks schlüpft, dient dieses als Projektionsfläche.

Mein Koffer

Ich bin der Koffer von Tofek. Ich bin ein Geschenk von
seinen Freunden. Meine Arbeit ist es, immer seine Kleidung, seine
Körperpflegemittel und sein Geld mitzunehmen. Ich bin sehr
klein und ich werde jeden Samstag gewaschen.
Meine Farbe ist braun.

 

Eines Tages hat Tofek mich im Zug verloren und eine Frau hat
mich zur Polizei gebracht. Ich habe zwei Tage bei der Polizei
geschlafen. Ich war sehr traurig. Ein Polizist hat mich gefragt:

 

Wie heißt du?

Ich bin der Koffer von Tofek.

Wo wohnst du?

Ich wohne in Grafing-Stadt.

Hast du eine Telefonnummer?

Ja, …

 

Und dann hat der Polizist Tofek angerufen.
Tofek ist gekommen, hat unterschrieben und
dem Polizist danke gesagt. Dann ist Tofek mit mir
nach Hause gegangen und ich habe lange geschlafen.

 

Zum Schluss hat Tofek mich an einen anderen Mann verkauft.
Das ist meine Geschichte.

Meine Schuhe

Nicht jeder hat Koffer oder Rucksack, aber jeder trägt Schuhe. Wie wichtig diese auf einer mehrere tausend Kilometer langen Flucht sind, kann sich vorstellen, wer schon einmal an einem Kiesstrand barfuß ins Wasser gewatet ist. Wie viel mehr muss es im Taurus-Gebirge oder in der Sahara schmerzen, wenn man keine Schuhe hat …

Meine Schuhe

Wir sind in Bamako, Oumar und wir. Oumar trägt uns.
Dann sind wir nach Burkina gefahren, dann nach Niger.
Dort haben wir die große Sahara gesehen.

 

Die Sahara ist wie die Hölle.
Glaubt uns, wir haben zwar die Hölle nicht gesehen,
aber es gibt bestimmt keinen Unterschied.

 

Dann sind wir nach Libyen gefahren. Da ist es ganz anders.
In diesem Land gibt es viele Banditen und Idioten,
kurz: viel Elend, um es genau zu sagen. Dort hat er
uns liegen gelassen, weil wir alt waren.
Er hat andere gekauft.

 

Wir hatten kein Glück, weil wir mit ihm nach Deutschland
fahren wollten. Aber wir wünschen ihm für die Zukunft
viel Glück und viel Spaß mit den neuen Schuhen.

Es ist anders hier

Das Gedichte „Es ist anders hier“ von Halit Ünal dient als Vorlage für einen sogenannten Paralleltext. Derartige Texte nutzen die äußere Form und setzen literarische Merkmale wie Metaphern, Wiederholungen, Rhythmus eines vorhandenen Textes ein, um daraus einen neuen entstehen zu lassen. In dem Gedicht werden die Erfahrungen in und mit Deutschland in Worte gefasst und mit der Heimat verglichen.

Es ist anders hier

Es ist anders hier, Bilal,
ganz anders.
Die Häuser haben alle ein spitzes Dach.
Garten. Schiff. Heizkörper.
Kinderwagen. S-Bahn. U-Bahn.
Hier isst man Schwein.

 

Es ist anders hier, Bilal,
ganz anders.
Es gibt keine Schuhputzer auf der Straße,
auch keine Esel
und keine Straßenverkäufer.

 

Es ist anders hier, Bilal,
ganz anders.
Es gibt Wasser im Haus.
Und es gibt Pizza-Service.

 

Ganz anders ist es hier, Bilal,
ganz anders.
Ein Mann hat nur eine Frau.
Frauen werden respektiert.
Und Hunde schlafen im Haus.

 

Nein, nein, nein,
anders ist es hier,
geliebter Bilal,
anders …

7 Namen

Die Aufgabe ist einfach: Man schreibt sieben Namen von Personen auf, die einem etwas in der Heimat bedeutet haben oder mit denen man eine sehr enge Bindung hat bzw. hatte. Dann reicht man das Blatt an den Nachbarn weiter, der einen der Namen auswählt. Über die Person wird dann ein Text geschrieben. Diese Art der Wahl entlastet den Schreibenden von dem möglichen Druck, selbst eine wichtige Person beschreiben zu wollen. Das betont den spielerischen Aspekt des Schreibens.

Mariam

Mariam ist meine Mutter. Sie ist die zweite Person, der ich
geglaubt habe. Denn die Mutter bedeutet alles für uns.

 

Mariam wollte meine Zukunft erleben und sehen, was ich
später machen werde. Sie wollte mich aufwachsen sehen
und wissen, wie ich aussehe.

 

Am 20. Mai 2004 ist sie gestorben.
Das war eine große Katastrophe.

 

Leute haben Alkohol getrunken und es kam zu einer
Schießerei mit Waffen und Fäusten. Meine Mutter
wurde getroffen.

 

Damals war ich ein kleines Kind. Ich war sechs Jahre alt
und habe das alles gesehen. Leider konnte ich
nichts machen, nur weinen und traurig sein.

 

Bis jetzt erinnere ich mich an meine Kindheit,
an das, was ich gesehen habe.
Wenn ich träume, dann sehe ich das.

Meine Großmutter, mein Großvater

Erinnerungen an die Großmutter oder den Großvater sind emotional oft bewegend. Sie erinnern an Heimat, Kindheit, Familie. Die Großeltern repräsentieren meist stark die Familienkultur, in die man hineingewachsen ist und definieren so die gesellschaftlichen Umstände der Kindheit. In Kriegs- und Krisenregionen haben allerdings viele gar keinen Kontakt zu den Großeltern gehabt und kennen diese nur aus Erzählungen. Wo selbst die fehlen, wurde in der Schreibwerkstatt auf Elternteile ausgewichen.

Mein Großvater

Mein Großvater und meine Großmutter
sind in Ghazni geboren und haben dort gelebt.
Mein Großvater ist 72 Jahre alt geworden und
ist vor zehn Jahren gestorben.
Meine Großmutter habe ich gar nicht gekannt.

 

Ich erzähle nur von meinem Großvater,
was er mir erzählt hat:

 

Mein Großvater war ein Dichter.
Er redete immer über Poesie.
Ein Gedicht vergesse ich niemals. Er sagte:

 

Es gibt keinen Weg zum Frieden,
denn Frieden ist der Weg.
Vergib deinen Feinden,
aber vergiss niemals ihre Namen.

 

Mein Großvater hat viel über den Krieg erzählt,
dass wir Afghanen immer Krieg gehabt haben.
Mein Großvater ist jeden Freitag zur Moschee gegangen.
Dort hat er für alle Afghanen gebetet.

Für dich

„Für dich“ ist ein sogenannter Paralleltext, angelehnt an ein Gedicht von Marina Michaelian, erschienen in den Buch „Garantiert schreiben lernen“ von Gabriele Rico. Dieses Gedicht führt das Portrait der Großmutter/des Großvaters weiter und überträgt den Text in eine lyrische Darstellung. Die Schreibenden können auf bestehende Texte zurückgreifen, die sie dann in das Gedicht einbauen.

Für dich

Dies ist ein Gedicht für dich, Großvater,
der du auf 70 Jahre zurückblickst,
der du ein gutes Gewissen hattest und ein kluger Bauer warst.
Der du immer gut drauf und kräftig warst.
Aber was mir bis heute leid tut ist,
dass du am Ende nicht mehr Dinge machen konntest,
die du immer im Griff hattest.
Mir tut auch sehr leid, dass du gestorben bist und
ich vermisse dich unendlich.

Der 52-seitige Begleitband (Softcover, Fadenbindung) enthält weitere Texte und Fotografien der Ausstellung.  Exemplare können bei mir zum Preis von 10 Euro plus 2 Euro Versand bestellt werden.

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Gegenlicht: Die Aufnahme wird gegen einen hellen Gegenstand fotografiert, etwa eine weiße Wand. (c)2016 Thomas Hümmler – München · Grafing

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